Theoretisch in den japanischen Alpen

Matsumoto, Japan

Am Bahnhof von Kyoto trennten sich die Wege, am Bahnhof von Matsumoto traf ich eine Krankenschwester und Karateka aus Süddeutschland. Sie war drei Wochen in Japan unterwegs; nach Matsumoto führte sie ein Tagesausflug zur Burg. Wir kamen ins Gespräch, auch ich wollte die Burg besichtigen, obgleich ich in meinem Reiseführer gelesen hatte, dass nur noch die Mauern vorhanden wären. Wie sich wieder einmal herausstellte, steht in Reiseführern viel Blödsinn und ich tendiere zu der Behauptung, sich nach ihnen zu richten ist Irreführung. Mein Hotel lag auf dem Weg zur Burg. Ein kurzer Zwischenstop dort zum Gepäckabwurf an der Rezeption und wir besichtigten die Matsumotoburg.
Diese ist nicht allzu groß, aber laut Eigenbeschreibung die älteste Burg Japans mit im Original erhaltenen Turm. Dass die letzten Jahrhunderte kein Feuer die Gebäude hinwegraffte, könnte wirklich am Schrein im Turm liegen, denn laut Legende versprach eine Göttin die Burg vor allem Unbill zu bewahren, würde man ihr dort mit einer Unterkunft und 600 Kilo Reis huldigen. Ich glaube, den Reis hat man mittlerweile entfernt. Wir unterhielten uns über das Alleinreisen, über neidische Kollegen, die sich wunderten, wie man es sich nur leisten könne zu reisen, und dass Alleinreisen doch unvorstellbar, ja das Allerletzte wäre…
Pustekuchen. Alles Pustekuchen, da waren wir uns einig.
Was führt jemanden nach Matsumoto? Eine Idee, ein Plan – da muss ich hin!? Oder einfach ein Blick auf die Landkarte, zack Mittendrin, Berge, mal schauen wie es dort ist, eine Burg auch nicht schlecht? Vielleicht von allem etwas.
Eine Zugfahrt durch die Berge ist etwas Herrliches, man schaut aus dem Fenster, in die Landschaft, der Blick gleitet über Bäume und Bergkuppen und die Gedanken schweifen. Auch in diesem Moment, als ich dies tippe sitze ich in der Bahn, auf der Weiterreise nach Tokyo.
Immer noch denke ich daran, wie sich Gefühle, mit Worten angemessen ausdrücken lassen. Ein einfaches Gefühl sollte doch mit einfachen Worten darzustellen sein, könnte man meinen, doch bin ich mir da nicht sicher. Vielleicht wenn man sich auf ein Erlebnis des Lesers beziehen kann, ala: „Wie in dem Moment, als Du Deine Tochter das erste Mal in Armen hieltst…“
Doch wer genau ist der Leser, die Leserin? Und sind sie alle gleich? Wenn jemand Alleinreisen als doof, langweilig oder gar mies erlebt hat, dann führt bei dieser Person jeder Bezug aufs Alleinreisen unweigerlich zu einem negativen Eindruck. Dabei gibt es genauso wenig DAS Alleinreisen, wie es DAS Leben gibt – für jeden Menschen, für jede Reise, ja für jede Etappe einer Reise kann es unterschiedlich sein. Natürlich gibt es ebenfalls die berühmten Höhen und Tiefen.
Um Abgründe zu vermeiden, in die man böse fallen kann, informiert man sich und plant oder organisiert. Planung mag für manchen Reisenden, den ich unterwegs traf ein Greuel sein. Da muss alles „authentisch planlos“ sein, vorgeblich schaut man erst vor Ort, wo und wie man unterkommt. Das kann auch schon mal in die Hose gehen, wenn der Flughafen nachts schließt und auch der 24h Burgerbräter nicht mag, dass seine Gäste in seinen Räumlichkeiten schlafen… Ist dann immerhin auch eine Erfahrung und so gibt es halt verschiedene Vorstellungen vom Reisen. Wichtig erscheint mir nur, dass man auf eine Art reist, die den eigenen Bedürfnissen entspricht. Und wenn man keine Ahnung hat, ob man mit etwas klarkommt – sei es Essen, die sanitären Anlagen oder die Schlafunterlage – ausprobieren!
Ein Reiseplan ist ein Hilfsmittel, kein Muss. Abweichungen davon sollten erlaubt sein, es macht keinen Sinn mit Gewalt passend zu machen, was nicht passend zu machen ist.
Interessanterweise kam mir bei Planung, verbunden mit dem Vorwurf des Strebens nach Sicherheit, der Bezug zur Meditation in den Sinn. Ich erinnerte mich an den Dhammatalk, als es hieß, Meditieren, sich Zurücknehmen, wäre wie ein Haus zu bauen, in das man sich zurückziehen könne, zum Schutz vor Wind, Regen und Eis. Ist man mental in der Lage, jede unbequeme, ungastliche Situation auf die man während einer Reise geraten könnte, unter Erhalt der inneren Zufriedenheit zu etragen und zu betrachten, so kommt man ohne Planung aus, kann sich treiben lassen. Aber hat ein dermaßen befähigter Mensch überhaupt noch den Antrieb zu reisen, und warum sollte er sich ohne Not in Unbill begeben?
„Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um“, hat einmal ein schlauer Mensch gesagt.
Man kann also einen Reiseplan, als eine Unterkunft betrachten, auf die man sich zurückziehen kann und nicht als Gefängnis, aus dem man nicht ausbrechen darf. Manchmal braucht man auch einen Plan, um das Vorhaben genehmigt zu bekommen.
Ist alles sehr theoretisch und zeigt mir wieder einmal, dass sich selbst mit vielen Worten kaum jemand anderem beschreiben lässt, wie sich etwas anfühlt, wenn derjenige nicht Ähnliches erlebt hat, oder abweichende Wertvorstellungen hat.
In Matsumoto war es der Fall, dass wir einander verstanden und von Anbeginn gut miteinander kommunizierten. Generell ist Kommunikation auf dieser Reise ein zentrales Thema für mich, auch weil ich etliche Wochen mit dem Erlernen des Handwerkszeugs – einer fremden Sprache – verbracht habe. Man kann mit vielen Worten kommunizieren, es kann die gleiche Sprache sein, es können die absolut richtigen Worte sein und doch versteht man sich nicht. Zum Teil ist es einfacher, versteht man sich besser, wenn man keine gemeinsame Sprache hat und Kommunikation sich auf das reduziert, was man gemeinsam hat, das Menschsein, die Menschlichkeit. Die Erwartungshaltung reduziert sich, wenn man nicht per se davon ausgehen kann, der Andere würde einen schon verstehen. (Davon kann man nie ausgehen, aber die eigene Bequemlichkeit verleitet gerne zu der Annahme)
Ach ach ach, ich erlebe Allgemeinplätze der Kommunikationstheorie, erlebe wie Missverständnisse zu schmollendem Schweigen führen und Gelegenheiten unwiederbringlich verloren gehen. Eine Nachfrage, ein Rückkanal hätte ausgereicht, um die Situation beizeiten zu klären, doch der Achso-Effekt stellte sich zu spät ein…
Wie ich dies schreibe, kommt mir eine frühere Bekannte, eine Grundschullehrerin, in den Sinn, die mir meine Naivität vorhalten würde, und mit einem schier unglaublichen Repertoire an Kommunikationstheoretischen Termen die Realität erklären würde. Und bei dieser Erklärung spektakulär scheitern würde, weil ihre Erklärung unverständlich ist, und eine aus ihrem Blickwinkel perfekte Beschreibung aus einer anderen Perspektive in der Realität anders aussieht und fehlerhaft wird. So in der Art, ein Leben in 3D auf eine Oberfläche zu projizieren.
Kurz zusammengefasst: so eine Reise, insbesondere als Alleinreisender, der selbst organisieren und „sich kümmern“ muss, ist sinnvoller und lehrreicher als Zwanzig Kommunikationsseminare, in denen es dann heisst: „nun nehmt Euch an den Händen und lasst Euch fallen…“
Ich will zu guter Letzt auch die Möglichkeit erwähnen, dass es manchmal besser sein kann, NICHT miteinander zu kommunizieren. Mag sein, dass ich bis zu dieser Stelle einige Leser verloren habe, die für sich zum Ergebnis kamen, ich schwafele zu viel, ich möge mich doch kurz fassen, sie hätten doch keine Zeit für so etwas.
Für die anderen komme ich nochmal auf Matsumoto und einen Tagesausflug nach Kamikochi zurück.
Also, die nette Karate lernende Krankenschwester (schwarzer Gürtel 2ten Grades) fuhr am Nachmittag zurück zu ihrem einige Bahnstunden entfernten Unterbringungsort, ich ging Nahrung shoppen und checkte dann in mein steriles Businesshotel ein. Dort arbeitete ich liegengebliebene Bilder und Reisetage auf und fad nicht die Zeit und Mu&#x DF;e die umhersausenden Gedanken einzufangen. Den nächsten Morgen wollte ich mit dem Bus nach Kamikochi fahren und wäre beinahe an japanischer Finanzlogik gescheitert. Meine liquiden Mittel gingen zur Neige, doch Tickets gibt es nur gegen Bares. Es gibt einen Geldautomaten neben dem Fahrkartenschalter, aber sin*****weise hält man diesen bis Neun Uhr verschlossen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der guten Frau am Schalter dämmerte, dass dieser Automat DOCH (ich bestand darauf) nicht so hilfreich für mich ist, wenn ich den Bus um 8:50 nehmen möchte. Man zeigte mir dann auf einem Stadtplan einen dieser SevenElevens mit ATM. (Hier sei erwähnt, dass die ATMs dort, wie auch an vielen anderen Stellen hier in Japan keine Mastercard oder Maestro mehr akzeptieren – warum auch immer) Ich schaffte es noch rechtzeitig Geld und Ticket zu beschaffen und eine tolle Busfahrt in die Berge, vorbei an, und über, diverse Staudämme zu erleben. Sehr sehenswert!
In Kamikochi kann man in einem Tal wandern und ringsum erheben sich einige Dreitausender, darunter auch ein aktiver Vulkan. Ich marschierte denn man los, hatte Sechseinhalb Stunden Zeit bis zur Rückfahrt. Die einfache Rechnung war: Zwei Stunden Flußaufwärts, wieder zurück, dann noch je eine Stunde Flußabwärts, in Summe sechs Stunden…
Ich war zu langsam, die Zeitangaben zu sportlich, oder es war einfach eine zu schöne Strecke (mit selbstgewähltem Schlenker) mit vielen Fotomotiven, um das ganze Programm zu bewältigen. Ist schon erstaunlich, wie schnell die Zeit an einem magisch anmutenden Tümpel vergehen kann…
Die Zeit verging im Flug und viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Mit ein paar kleinen Pausen schaffte ich nur 19km und verpasste den See, der durch den letzten Vulkanausbruch vor Hundert Jahren entstand.
Ich kann jedem nur empfehlen, dort hin zu fahren und vor Ort in einem der tollen Hotels zu übernachten, oder zu campen! Denn landschaftlich (und Onsenmäßig) gibt das Areal für etliche Tage etwas her.
Auf der noch spektakulären Busrückfahrt – ein wenig müde gewandert, wie ich war – stellte ich fest, dass mich diese verflixten Japaner mit ihren Onsen angefixt haben. 😉 Es erschien mir unglaublich verlockend, den Bus in einem der Bergtäler, bei einem Thermalhotel zu verlassen und sich im heißen Wasser durchweichen zu lassen. Die heiße Hoteldusche war nur ein schwacher Trost. So. Dies war eine weitere, zugegebenermaßen lange, Beschreibung einer weiteren Etappe auf meiner Bildungsreise.
Nur noch ein paar Tage, beinahe scheint mir ein Morpheus immer eindringlicher zu mir zu sprechen, ich sei lediglich in einer Matrix, ich müsse endlich die rote Pille schlucken und in den germanischen Alltag zurückzukehren…